Frau Reichinnek, mit Blick auf Ihre Partei geht es aktuell permanent um „Krise“ und „Neustart“. Können Sie die Wörter überhaupt noch hören?
Heidi Reichinnek: Es gibt natürlich Themen, die immer wieder diskutiert werden. Aber da alle was dazu wissen wollen, rede ich da gerne auch noch das 100. Mal darüber.
Ist das nicht kontraproduktiv, wenn es statt um Inhalte nur darum geht, wie zerstritten die Linke ist und dass sich das ändern müsse?
Deswegen setze ich solchen Narrativen immer mein Programm entgegen – also die Punkte, mit denen ich für den Parteivorsitz antrete. Wir müssen auch für die da sein, die nach 40-Stunden-Woche, Kinderbetreuung, Pflege oder aus anderen Gründen sich nicht selbst politisch engagieren können, sondern darauf vertrauen, dass jemand für sie da ist und dafür sorgt, dass die Situation vor Ort besser wird. Dafür braucht es Rückenwind für unsere Mitglieder in den Kommunen, die gerade alles dafür tun, dass die Linke überhaupt noch eine Chance hat – in den Kommunalparlamenten, den Bewegungen, auf der Straße und in persönlichen Gesprächen.
Heidi Reichinnek möchte Ko-Vorsitzende der Linken werden.
© DIE LINKE/Felix S. Schulz
Ein Punkt aus Ihrem Programm ist eine „Anlaufstelle für soziale Probleme“, die Sie zusammen mit den Kreis- und Landesverbänden einrichten wollen. Was kann man sich darunter vorstellen?
Es gibt bei uns das Konzept „Die Linke hilft“. Da bieten Büros von Abgeordneten oder Kreisverbänden Sprechstunden an, zu denen man hinkommen oder anrufen und sagen kann: „Hey, ich habe hier ein Problem.“ Zum Beispiel, wenn man einen Hartz-IV-Bescheid mit einer Kürzung bekommt und den nicht versteht. Unsere Leute vermitteln dann weiter oder schreiben in dem genannten Fall etwa zusammen mit der Person einen Widerspruch. Das sind niedrigschwellige Angebote, die wir flächendeckend anbieten könnten und sollten, weil das wirklich etwas verbessert.
Reichinnek: „Wir müssen in der Kommunalpolitik zeigen, dass wir Positives bewirken können“
Als weiteren Schwerpunkt wollen Sie Menschen erreichen, die bisher nicht wählen. Wie?
Ich habe den Eindruck, dass viele Parteien Nichtwähler abgeschrieben haben und für nicht mehr erreichbar halten. Aber nicht zu wählen, ist ja auch eine rationale Entscheidung. Deswegen müssen wir in der Kommunalpolitik konkret zeigen, dass wir Positives bewirken können – und unsere Erfolge besser präsentieren. Wir sind an vier Landesregierungen beteiligt und haben in Berlin zum Beispiel kostenloses Mittagessen für Schülerinnen und Schüler durchgesetzt.
Die genannten vier Landesverbände haben kürzlich eine Stellungnahme mit dem Titel „Lasst uns einfach gute Politik machen“ veröffentlicht. Unter anderem gibt es auch den „Aufruf für eine populäre Linke!“ von einer Gruppe um Sahra Wagenknecht. Wie stehen Sie dazu?
Es gab ja auch mehrere andere Papiere – in allen finden sich punktuell Dinge, die ich richtig gut finde und die ich vielleicht nicht ganz teile. Ich versuche, alle diese Texte zu lesen und für mich zu reflektieren: Was kann ich davon jetzt schon für meine Arbeit übernehmen und was für den Fall, dass ich Vorsitzende werde? Ich finde es gut, dass man miteinander in den Dialog tritt und schaut, was einen nach vorne bringt und umsetzbar ist und was vielleicht eher Wunschdenken.
Welche Punkte daraus finden Sie denn gut und welche nicht?
Im „Aufruf für eine populäre Linke!“ wird zum Beispiel das Thema Nichtwählerinnen und Nichtwähler und wie man sie zurückgewinnen kann erwähnt, das ist für mich ein positiver Aspekt. Ein weiterer Punkt, den ich sehr unterstütze, ist der Fokus auf soziale Gerechtigkeit und dass man alle anderen Themen immer unter dieser Brille betrachten muss. Für Wunschdenken aus anderen Aufrufen halte ich etwa die Überzeugung, dass wir nur über den Kontakt zu sozialen Bewegungen Erfolg haben – auch wenn diese zu unserer DNA dazugehören.
Reichinnek: „Haben bei der Öffentlichkeitsarbeit Nachholbedarf“
Zum Bereich soziale Gerechtigkeit schreiben Sie auf der Website zu Ihrer Kandidatur, die Partei müsse ihre „Glaubwürdigkeit und Expertise“ nutzen, um sich „in jegliche Diskussion einzumischen“. Wie stellen Sie sich das genau vor?
Mir ist wichtig, dass deutlich wird, dass unsere Arbeit in den verschiedenen Parlamenten wichtig ist, sowohl für verschiedene Verbände als auch zum Beispiel für Journalistinnen und Journalisten – die dadurch an Informationen kommen, die man sonst vielleicht nicht gehabt hätte. Zum einen haben wir da bei der Öffentlichkeitsarbeit als Ganzes Nachholbedarf, weil wir bisher immer sagen „Unser Programm ist sowieso das beste“ – das merken die Leute. Und zum anderen brauchen wir mehr Zusammenarbeit nicht nur zwischen Partei und Fraktion, sondern auch zwischen Bundespartei und den Landesverbänden. Die jeweiligen Vorsitzenden müssen sich besser vernetzen: Da gibt es bisher schon Videokonferenzen, die meist aber kein konkretes Ziel haben.
Sie sagen, dass die Kommunalpolitik in der Partei oft „sehr stiefmütterlich“ behandelt werde. Wie wollen Sie das ändern?
Wir haben natürlich flächendeckend Kommunalpolitiker in allen möglichen Räten, die eine tolle Arbeit machen und versuchen, sich zu vernetzen. Aber die Bundespartei muss da mehr tun und ihnen beispielsweise ermöglichen, zu sehen: Welches Thema behandelt die Fraktion gerade und wie kann man das nach unten durchdeklinieren? Gute Anträge sollten bundesweit besser zur Verfügung gestellt werden – und auch Kommunalwahlkämpfe müssen von der Bundespartei stärker unterstützt werden
Haben Sie ein Beispiel für ein Thema, das man „nach unten durchdeklinieren“ kann?
Als jugendpolitische Sprecherin habe ich mich unglaublich aufgeregt über den Kindersofortzuschlag der Bundesregierung, weil 20 Euro pro Monat einfach respektlos sind. Jetzt kann ich im Bundestag natürlich toben und einen Antrag zum Thema stellen, aber ansonsten sind mir die Hände gebunden. Auf kommunaler Ebene könnte man das aufgreifen und beantragen, dass die Kinder in den Schulen eine vernünftige Mittagsverpflegung bekommen – was viele unserer Abgeordneten auch tun. Als ich noch Stadträtin in Osnabrück war, habe ich etwas Ähnliches erlebt.
Inwiefern?
Wegen der Corona-Pandemie waren ja die Kitas und Schulen anfangs geschlossen. Viele Kinder und Jugendliche, die normalerweise jeden Tag dort essen, haben dadurch nichts mehr bekommen. Keiner hat daran gedacht, dass das für Eltern, die Sozialleistungen beziehen, eine unglaubliche Mehrbelastung ist, wenn sie ihren Kindern plötzlich auch fünf Mahlzeiten am Tag hinstellen müssen. Wir als Linke haben deshalb eine zusätzliche Auszahlung für diese Familien beauftragt. Das war nicht gewollt, weil es hieß, das geben die am Ende ja eh nur für Alkohol und Drogen aus.
„Da kann man als Partei an einem Strang ziehen und Ideen weitergeben“
Und dann?
Am Ende wurde ein Konzept entwickelt, bei dem man online Essensboxen bei einem Caterer bestellen konnte. Das war in mehreren Sprachen möglich und wurde vom Familienbüro der Stadt unterstützt. Das hat dazu geführt, dass wir zumindest ein Viertel der Familien mit diesem Angebot erreichen konnten. Und das, weil alle Fraktionen zugestimmt haben, nachdem die Verwaltung erst gar keinen Bock darauf hatte. Das Projekt wurde dann auch in vielen anderen Kreisen in Niedersachsen aufgegriffen. Das sind so Sachen, wo ich sage: Da kann man als Partei an einem Strang ziehen und Ideen weitergeben.
Welche Rolle spielt für Sie das für die Partei wichtige Thema Ost-West?
Für mich ist ganz klar, dass unser Fokus wieder auf dem Osten liegen muss. Dort haben wir nun mal leider sehr viele Menschen, die nicht oder nicht mehr wählen oder zur AfD abgewandert sind. Und genau diesen Leuten müssen wir ein Angebot machen und sagen: Hey, ihr müsst nicht frustriert aufgeben! Wir setzen uns ja auch im Bundestag immer wieder dafür ein: Meistens sind wir es, die das Thema auf die Tagesordnung setzen: niedrige Renten, geringe Beschäftigung, aber ebenso die stärkeren Ausprägungen von Rassismus und Diskriminierung. Wir müssen uns doch für ein besseres Leben gerade von denen einsetzen, die Benachteiligungen ausgesetzt sind – und die sind gerade im Osten weit verbreitet, auf viele Arten. Aber natürlich müssen wir gleichzeitig mit den neuen Realitäten klarkommen: Ost und West sind zum Glück nicht mehr geteilt. Ich lebe schon seit vielen Jahren im Westen, bin aber 1988 in Sachsen-Anhalt geboren – habe also noch eine DDR-Geburtsurkunde.
Zur Person : Heidi Reichinnek ist von Beruf pädagogische Mitarbeiterin in der Jugendhilfe (aktuell freigestellt). Sie ist Co-Vorsitzende des niedersächsischen Landesverbands der Linken und seit 2021 für die Partei im Bundestag.